Ansichten eines Halbstarken

„Der Fänger im Roggen“ zu Gast am KHG

Ach, diese trockenen und amtlichen Mitteilungen! Brigitte Furthmüller, die seit Jahren die Theaterproduktionen des KHG mit Kunst und Kamera begleitet und ihr Festhaltbares festgehalten hat, wird dies künftighin nicht mehr tun. In der Dunkelkammer wird es finsterer. Die Wahrheit ist manchmal verdammt bitter.

Und, während noch die Dankesworte verhallen, beginnt, unbeschadet ihrer Aufrichtigkeit und Herzlichkeit, schon das Casting um die Nachfolge. Einige vielversprechende Kandidaten haben bei der aktuellen Aufführung (Mittelstufe, Jahrgänge 9-11, 14.6., 19 Uhr, Haupthalle) Probefotos geschossen. Hier ein paar von den bemerkenswerteren.

Ein Septett, startklar, auf der Bühne sitzend, blickt unbewegt das Publikum an: Edna Lappen, Lilly McGrath, Vera Schneider, Alina Schock, Kilian Frey, Tyrese Hamid, Emre Oktar – sie alle spielen Holden Caulfield, den siebzehnjährigen „Helden“ in J. D. Salingers Roman „Der Fänger im Roggen“, dem Welterfolg von 1951, und zudem jeweils mindestens eine weitere Rolle. Eine Figur, sieben Seelen; Holden befindet sich in der Obhut der Psychiatrie. Sein Leben zerfällt in Episoden.

Holden, aus dem Internat geflogen, nimmt Abschied von seinem schwerhörigen Geschichtslehrer – Tyrese Hamid ist als solcher umwerfend komisch. (Sieht man freilich auf dem Foto nicht.)

Holden / Emre und ein Freund, Kilian, der sorgsam seine Frisur perfektioniert; sie reden, die Gesichter zeigen es, aneinander vorbei. Über Philosophie. „Was meinst du damit? Sex oder so?“ (Passenderweise fällt hier eine Glasflasche im Publikum um. Sieht man freilich auf dem Foto nicht.)

Großaufnahme von Holdens / Alinas Gesicht: eingeschrieben ist ihm die Besorgnis um die Enten, die in der Lagune im Central Park eingefroren sind. Das Leben ist manchmal verdammt bitter.

Emre als Holden der Lügner als „Rudolf Schmidt“ – was ist das für ein klitzekleiner Tumor in seinem Gehirn?

Holden, ein Urenkel Woyzecks, bös malträtiert von Emre und Vera.

Holden, ein Urenkel Fausts: sein Gretchen geht allein nach Haus.

Ein Schnappschuss vom Regisseur, Daniel Seniuk, die Aufführung so konzentriert beobachtend, wie er sie vorbereitet hat, gespannt, aber zuversichtlich: sehr kurzfristig musste umbesetzt werden, wird alles gut gehen? (Ja! Auch am Samstag, im Studio des E.T.A.Hoffmann-Theaters, wohin die Inszenierung perfekt passen wird; dann vor ausverkauftem Haus, die Mitwirkenden hätten’s verdient.)

Edna als Holden, in dessen Zügen sich der Hass auf die Verlogenheit malt.

Lilly als Holdens jüngere Schwester Phoebe, ganz(?) die Tochter Daddys, der Anwalt ist.

Verfluchte Großaufnahme des verdammten Baseballhandschuhs, über den Holden einen verdammten Aufsatz geschrieben hat – um es in der noblen Sprache der alten Zeit zu sagen.

Holden / Alina verliert vor einer Nummer, die fünf Mäuse wert wäre, und vor Vera die Courage.

Holden, der mit Sally durchbrennen will – Sally, die mit Holden nicht durchbrennen will.

Lilly als Holden, in klinisch kühlem Blaulicht („die Technik“ ist stark!), gelagert auf einer Kreuzung von Couch und Seziertisch.

Ein Traumfoto: „Der Fänger im Roggen“, ersehnter Retter und zugleich Holdens Ich-Ideal.

Noch ein Traumfoto: ein kleiner Junge, singend nahe am Bordstein auf der Fahrbahn unterwegs. Holdens Blick auf ihn sagt, dass er gern wie er wäre, ebenso unbekümmert.

Tyrese als Holden, sicher, dass ihn niemand umbringt. Hat sieben Leben; eine Katze auf heißem Blechdach (auch so ein amerikanischer Klassiker aus der Nachkriegszeit).

Emre als Holden, betrunken, ungeheuer einsam – verspricht, den Weihnachtsbaum zu schmücken.

Der rote Faden der Chronologie, der sich bei aller Abgeschlossenheit der vom sich selbst bespiegelnden Helden Holden zwischendurch immer wieder „episch“ erklärten Einzelszenen durchs Stück zieht.

Der (von den anderthalb Stunden stark beeindruckte) Rezensent, schwer versonnen: freut sich der eingespielten Musik, „Ne me quitte pas“ und „Strangers in the night“ – das sind wir schließlich alle -, „Es ist sicherlich absurd, in dieser Welt zu leben“ (Tocotronic) und „Hurra, diese Welt geht unter“ (K.I.Z.).

Derselbe, mit geschlossenen Augen ins Abseits assoziierend, nachdem Holden am Ende, wieder zum siebenstimmigen Kammerchor dissoziiert, Robert Burns‘ im Romantitel aufgegriffenes Gedicht „Comin‘ thro‘ the Rye“ gesungen hat: Mani Matter, Bim Coiffeur, da spiegelt sich im Friseurspiegel der Spiegel an der Wand gegenüber, und so fort, und beim erschrockenen „Maulaufreißen“ wird der Sänger zum „Männerchor aus mir allein“ – und flüchtet, vor dem drohenden Wahnsinn. Der nervenkranke C. F. Meyer hat in seinen Gedichten öfters den sich im Wasser spiegelnden leeren Himmel als Szenerie. Holden, Aug‘ im Aug‘ mit dem Absurden und der Sinnleere – das bedeutet, um 1950, allenfalls ein sehr zahmes Aufbegehren. Implosion, nicht Explosion. Die sich und die Welt suchende sensible Jugend zersplittert hier keine Schaufensterscheiben; nur ihre Seele hat einen Sprung. „Harmlos“ ist das alles gleichwohl nicht, so wenig es mit schwerem Ernst daherkommt. Was hätte J. D. Salinger in weiteren Romanen darüber hinaus schreiben sollen? Die Psychoanalyse wird zumindest die Fassade wieder herstellen. Ente gut, alles gut.

Ein Vorschlag, wenn’s gestattet ist: Holden Caulfield, aus der Fiktion in die Realität getreten, inzwischen im neunten Lebensjahrzehnt – er ist geistig klar, welchen Beruf er schließlich lebenslang ausgeübt hat, ist ihm freilich entfallen; er hat nicht Donald Trump gewählt, die Nichtteilnahme der USA an der Fußball-WM ist ihm gleichgültig; er sitzt gelegentlich an der Lagune im Central Park, sieht den Himmel sich im Wasser spiegeln und denkt an die Enten, die längst gestorben sind.

Matthias Schleifer

 

Der Fänger im Roggen (nach J. D. Salinger) - Einladung

am Donnerstag, 14.06.2018, 19 Uhr in der KHG Haupthalle und

am Samstag, 16.06.2018, 16 Uhr im Studio des E.T.A.-Hoffmann-Theaters

Holden ist 17 Jahre alt und Patient in einer psychiatrischen Anstalt. Wie ist er dahin gekommen? Die Erlebnisse dreier Tage im vergangenen Winter sind dafür verantwortlich und die lässt er noch einmal Revue passieren. Angefangen mit dem Rausschmiss aus seinem Internat reisen wir mit ihm durch drei turbulente und aufwühlende Tage und vor allem Nächte im pulsierenden Strudel von New York. Holden ist ein ewig Suchender und leider weiß er selber gar nicht, was er eigentlich sucht. Nur einer kann ihm vielleicht helfen: Der Fänger im Roggen.

Mit „Der Fänger im Roggen“ gelang dem damals 32-jährigen Autor Jerome David Salinger 1951 ein Welterfolg, der das Genre Jugendliteratur und Coming-of-Age revolutionierte. Das Werk wurde ca. 65 Millionen Mal verkauft und gilt als eines der meistgelesenen Bücher weltweit.

 

Darsteller

Holden Caulfield – Edna Lappen, Lilly McGrath, Vera Schneider, Alina Schock; Kilian Frey, Tyrese Hamid, Emre Oktar
Horwitz – Edna Lappen
Mrs. Morrow/Phoebe – Lilly McGrath
Sunny – Vera Schneider
Ackley/Sally/Sängerin – Alina Schock
Stradlater/Carl/Mr. Antolini – Kilian Frey
Spencer – Tyrese Hamid
Kellner/Maurice – Emre Oktar
Technikcrew unter der Leitung von Thomas Frank
Künstlerische Leitung: Daniel Seniuk